Tag 4
Auch in dieser Nacht hatte ich kaum geschlafen. Eine Weile
versuchte ich nochmals einzuschlafen. Ohne Erfolgt. Ich zündete das Licht an
und holte mein Handy. Alejandro war schon online. Wahrscheinlich konnte er
nicht schlafen, weil er mir sein Zimmer überlassen hatte. Eine Weile klickten wir
uns gegenseitig im Instagram und Facebook an. In was für einer komischen
Welt wir leben, dachte ich. Wir waren im gleichen Haus und konnten beide
nicht schlafen. Aber jeder glotzte in sein Handy, anstatt aufzustehen, in die
Küche zu gehen, einen Kaffee zu machen, und sich zu unterhalten.
Ich wartete bis 8 Uhr, bis ich in den Wohnbereich ging. Ich
wollte nicht die erste sein. Doch die Familie sass schon vor dem Fernseher, als
ich reinkam. Alejandros Tante stand sofort auf und ging zum Kochherd. Bald zauberte
sie für uns feine Tortillas mit Zimt. Dazu gab es Kaffee mit Milch und feine
Cookies. Ich fühlte mich Jahre zurück versetzt in die Zeit als meine
Grossmutter noch lebte und ich bei ihr zu Besuch war. Grundsätzlich sind
Mexikaner genauso gastfreundlich wie Ex-Jugoslawen. Die Tante bekochte uns und
der Vater unterhielt sich mit mir über den Gott und die Welt. Nicht über
Corona. Obwohl im Fernsehen ständig über
das Virus berichtet wurde, hörte dem niemand zu. Die Patinos lebten in einer
eigenen Welt.
Juan Patino ist ein aussergewöhnlicher Mensch. Fröhlich,
lustig, intelligent und mit seinen 85 Jahren immer noch temperamentvoll. Er war
früher viel gereist und dem entsprechend war er offen und interessiert für Neues.
Er wusste viel zu erzählen. Auch war er der erste Mensch den ich im Ausland
traf, der die Schweiz nicht mit Schokolade oder mit Banken assoziierte. Er
verband die Schweiz mit den Kühen. Er wusste genau wie eine Schweizer Kuh aussehen
sollte. Er wünscht sich irgendwann die Schweiz und Holland zu sehen. Senor
Patino liebt Musik. Er singt leidenschaftlich gerne Karaoke. Nach dem Frühstück schaltete
er eine riesengrosse Musikanlage ein und brachte eine Schachtel mit mehreren
Mikrofonen. Minutiös suchte er das richtige aus und richtete den Fernseher so
ein, dass er dort den Text sehen kann. Aus tiefster Seele sang er melancholische
mexikanische Lieder die von Liebe, Einsamkeit und dem Tod handelten. Ich hörte ihm
gebannt zu und wünschte mir ich hätte mal einen solchen Vater gehabt. Ich beneidete
Alejandro um ihn – nicht nur um ihn, sondern auch um die ganze Familie. Was für
ein Zusammenhalt! Ich fand es schade, dass ich sie bald verlassen musste.
Ich habe vergessen zu sagen, dass ich am Morgen als ich
nicht schlafen konnte, bereits einen Retour-Flug in die Schweiz für den
nächsten Dienstag, den 17. März, gebucht hatte. Ich wollte ursprünglich bis zum
28. bleiben. Ich musste einen Flug über London buchen, da Swiss nicht mehr USA anfliegen
durfte. England und Irland stufte Präsident Trump nicht so gefährlich ein wie
den Rest von Europa. Ich machte mir zu diesem Zeitpunkt noch keine Sorgen. Ich
war nur traurig, dass meine so lang ersehnte Ferien ins Wasser gefallen waren.
Zum Mittagessen machte Papa Juan für uns Burritos. Das waren
meine ersten richtigen Burritos. Ich liebte sie auf Anhieb. Etwas später kam Alejandros
Schwester mit ihrem Mann. Sehr sympathische Leute. Wir unterhielten uns in einem
fliessenden Mix aus Spanisch und Englisch. Alejandro erzählte mir, dass die
Leute die mich nach der Party wieder nach LA fahren sollten, wegen der Grippe
abgesagt hatten. Es sah aus, als ob ich noch eine Nacht bei den Patinos bleiben
sollte. Das machte mir nichts aus. Im Gegenteil. Ich freute mich darauf.
Nach dem Mittag machten wir uns alle hübsch und gingen zusammen
über die Strasse. Die Schwestern von Alejandro haben tolle Arbeit geleistet!
Alles war im Hollywood Stiel eingerichtet, mit viel Glanz und Glamour. Es gab
einen Red Carpet wo man sich mit Alejandro fotografieren konnte und ein Walk of
Fame mit wichtigsten Filme in denen er gespielt hatte. Just auf die Party hat
der Regen aufgehört. Die Gäste konnten einen Spaziergang durch den schönen,
grossen Garten machen und die Kinder auf dem Spielplatz spielen. Wir waren kaum
eine viertel Stunde dort als ich hörte das Papa Juan bereits Karaoke sang. Die
Gäste kamen nach und nach. Ich schätze es waren etwa 100. Eine illustre Schar der Amerikaner mit latinischen
Wurzeln. Die meisten unterhielten sich auf Englisch, obwohl immer wieder einige
Spanische Wörter dazwischen rutschten. Gegen Abend ging die Party so richtig
los. Zumindest für die Frauen. Wir standen im Kreis und tanzten, jede für sich.
Aber immer wieder musste eine in die Mitte gehen und eine Solo Nummer vorführen,
angefeuert von den anderen. Bald gesellte sich auch Papa Juan zu uns. In seinem
tadellosen dunklen Anzug und seinem eleganten Hut sah er umwerfend aus. Langsam
aber voll im Rhythmus tanzte er, angefeuert von Frauen jeden Alters. Man sah es
ihm an, wie gerne er tanzte. Sein ganzer Körper tanzte mit. Ich tanzte die
ganze Zeit. Das Tanzen hatte den Vorteil, dass man nicht fror. Inzwischen wurde
es kühl draussen.
Und was wurde aus meinem Vorhaben «Sozial Distancing» einzuhalten?
Unmöglich! Anfangs versuchte ich es noch den Leuten die ich kennengelernt hatte
nicht die Hand zu geben, natürlich mich immer auf Corona berufend. Die meisten
aber hielten wie Alejandro alles für Panikmacherei. Sie küssten sich und umarmten
ohne Bedenken. Nicht einmal der 85-Jährige Juan Patino wurde davon verschont. Irgendwann
gab ich auch auf. Es war unmöglich sich zu distanzieren, ohne sich lächerlich
zu machen. Ich verbannte Corona aus meinen Gedanken und genoss das Fest in
vollen Zügen. Und das war gut so.
Fortsetzung folgt…
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